Das Bundesverfassungsgericht hatte in einem Verfahren zur einstweiligen Anordnung (1 BvR 1654/22, Beschluss vom 07.09.2022) darüber zu entscheiden, ob das Jugendamt der Stadt Oldenburg in der Ukraine geborene Zwillinge in Obhut nehmen durfte, weil es vermutete, dass die Kinder durch eine sog. Leihmutterschaft geboren worden seien. Ein deutsch-lettisches Ehepaar hatte im Jahr 2019 in der Ukraine die Ehe geschlossen. Im Jahr 2020 wurden in Kiew Zwillinge geboren, die ausweislich der in Kiew ausgestellten Geburtsurkunde die Kinder des Ehepaares sind und die ausweislich einer Bescheinigung des lettischen Konsulats in Berlin die lettische Staatsangehörigkeit haben.
Das Einwohnermeldeamt in Oldenburg verweigerte die Anmeldung der Kinder in Oldenburg und informierte das Jugendamt darüber, dass die Umstände der Geburt der Kinder ungeklärt seien und die Kinder sich somit ohne sorgeberechtigten Elternteil in Deutschland aufhielten. Die Mutterschaft sei nicht durch einen Geburtenregisterauszug nachgewiesen. Da die Frau zum Zeitpunkt der Geburt bereits 56 Jahre alt gewesen sei läge der Verdacht der Leihmutterschaft nahe. Somit könne auch die gesetzliche Vermutungsregelung, wonach der mit der Mutter zum Zeitpunkt der Geburt verheiratete Mann der Vater eines Kindes ist, hier nicht eingreifen. Im Rahmen eines Hausbesuchs stellte das Jugendamt fest, dass keine Kindeswohlgefährdung vorläge.
Das Jugendamt beantragte gleichwohl beim Familiengericht, eine Amtsvormundschaft einzurichten und die elterliche Sorge auf das Jugendamt zu übertragen. Das Familiengericht lehnte den Antrag ab, da es keine Kindeswohlgefährdung sah. Das Jugendamt legte dagegen Beschwerde beim Oberlandesgericht ein und begründete dies damit, dass weder die lettische Registrierung noch die ukrainische Geburtsurkunde Entscheidungen nach § 108 FamFG seien.
Mit Hinweisbeschluss vom 16.05.2022 wies das OLG darauf hin, dass nach Art. 14 Abs. 1 EGBGB das Recht der Vormundschaft dem Staat unterliege, in dem das Mündel angehöre. Nach Art. 3, c, Art. 5 Abs.1, Art. 15 Abs. 1 des Haager Kinderschutzübereinkommens (KSÜ) sei in vormundschaftlichen Angelegenheiten der Staat zuständig, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt habe. Somit sei deutsches Recht anzuwenden. Nach deutschem Recht seien Eltern diejenigen, die die Elternschaft innehätten, §§ 1591 ff. BGB. Die Elternschaft sei durch die vorgelegten Unterlagen nicht erwiesen. Da die Kinder keinen personensorgeberechtigten Elternteil hätten, sei ein Vormund nach § 1773 BGB zu bestellen. Das Ehepaar trug im Verfahren vor, dass das Jugendamt die Inobhutnahme der Kinder angedroht habe, was dem Kindeswohl widerspräche.
Mit Beschluss vom 05.07.2022 hob das Oberlandesgericht den Beschluss des Amtsgerichts teilweise auf und bestellte das Jugendamt zum Amtsvormund für die Kinder. Es führte über die im Hinweisbeschluss bereits geäußerte Rechtsauffassung hinaus aus, dass eine Inobhutnahme der Kinder nicht zur Diskussion stünde. Am 02.08.2022 kam es zu einem erneuten Hausbesuch des Jugendamts, im Zuge dessen die Mitarbeiter ebenfalls versicherten, eine Inobhutnahme sei nicht beabsichtigt. Am Morgen des 04.08.2022 wurden die Kinder dennoch entgegen der zwei Tage zuvor gemachten Bekundungen in Obhut genommen. Das Jugendamt verweigerte gegenüber der Beschwerdeführerin sogar Angaben zum Aufenthaltsort der Kinder.
Nach erfolgloser Anhörungsrüge beim OLG erhoben die Eltern im Rahmen einer einstweiligen Anordnung Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht. Dieses gab den Eltern teilweise Recht und führte aus, dass eine Verletzung des rechtlichen Gehörs nach Art. 103 GG nicht offensichtlich unbegründet sei. Das Oberlandesgericht sei trotz des deutlichen Hinweises auf die drohende Trennung der Kinder nicht auf die drohende Inobhutnahme eingegangen. Ebenso habe es sich nicht mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zur Trennung des Kindes von der Hauptbezugsperson (Entscheidung des EGMR vom 24. Januar 2017 (25358/12 - Paradiso u. Campanelli/Italien) auseinandergesetzt, sondern ausgeführt, dass eine Trennung überhaupt nicht im Raum stünde. Im Rahmen einer Folgenabwägung beurteilt das Bundesverfassungsgericht die Folgen einer fortdauernden Trennung der Kinder von der Beschwerdeführerin und der damit verbundenen Kindeswohlgefährdung schwerwiegender gegenüber dem Fall, dass man es bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens bei der Amtsvormundschaft beließe.
Über den Fall ist aufgrund der in der Hauptsache noch ausstehenden Entscheidung somit noch nicht abschließend entschieden worden. Klar dürfte durch die Entscheidung aber bereits jetzt sein, dass das Jugendamt Kinder nicht aufgrund einer vermuteten Leihmutterschaft einfach von seinen gewohnten Bezugspersonen trennen darf, auch wenn der Verdacht besteht, dass das Eltern-Kind-Verhältnis aufgrund einer in Deutschland verbotenen Leihmutterschaft zustande gekommen ist.