Landessozialgericht Bremen-Niedersachsen stärkt das Wunsch- und Wahlrecht von Rollstuhlfahrern bei der Hilfsmittelversorgung

 

Das Landessozialgericht Bremen-Niedersachsen hat mit Urteil vom 13.09.2022 (Az. L 16 KR 421/21) das Wahlrecht Behinderter bei der Auswahl von Pflegehilfsmitteln wie Rollstühlen, die dem Ausgleich von Behinderungen dienen sollen gestärkt. Der 51-jährige querschnittsgelähmte Kläger war bislang mit einen mechanisch betriebenen Aktivrollstuhl (sog. Handbike) versorgt gewesen. Aufgrund nachlassender Kraft im Schulterbereich beantragte er bei seiner Krankenkasse die Versorgung mit einem Rollstuhlzuggerät, welches auch einen elektrischen Betrieb ermöglicht. Sowohl die Krankenkasse als auch das Sozialgericht Oldenburg lehnten dies ab, da sie der Auffassung waren, dass die Versorgung mit einem (halb so teuren) Elektrorollstuhl ausreichend sei. Hiermit könne der Kläger selbstständig das Haus verlassen, den Nahbereich erschließen und ein selbstständiges Leben führen. Mit dem Rollstuhlzuggerät könne der deutlich höhere Geschwindigkeiten als ein Fußgänger erreichen, was von der Krankenkasse nicht geschuldet sei. Ferner bestünde die Gefahr, dass der Kläger durch den Betrieb des Rollstuhl durch Erschütterungen beim Fahren Spastiken erleide. Hingegen hatte auch der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) die Versorgung mit dem elektrisch unterstützten Zuggerät als wünschenswert und sinnvoll erachtet. 

 

Das Landessozialgericht folgte dieser Argumentation nicht, hob die Bescheide der Krankenkasse und das Urteil des Sozialgerichts auf und verurteilte die Krankenkasse, den Kläger mit dem Rollstuhlzuggerät „Husk-E“ zu versorgen. Der Kläger habe gemäß §§ 27 Abs. 1, 33 Abs. 1 S. 1 Variante 3 SGB V einen Anspruch auf die begehrte Versorgung mit dem Rollstuhlzuggerät. Nach § 33 Abs. 1 S. 1 Var. 3 SGB V besteht ein Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um eine bestehende Behinderung auszugleichen. Bei der Prüfung des Anspruchs auf Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich im Rahmen des § 33 Abs. 1 S. 1 Var. 3 SGB V seien auch die Teilhabeziele des SGB IX auf ein selbstbestimmtes und selbstständiges Leben als objektive Wertentscheidung des Gesetzgebers zu berücksichtigen. Ferner sei dem Recht auf selbstständige Mobilität aus Art. 20 der UN-Behindertenkonvention Geltung zu verschaffen. Das Recht auf Erschließung des Nahbereichs für persönliche Bedürfnisse wie Gängen zum Einkaufen, Post, Bank, Einkäufen, Ärzten, Therapeuten oder sozialen Kontakten dürfe nicht zu eng gefasst werden. Die Versorgung des Klägers mit einem Elektrorollstuhl widerspreche dem Recht auf Selbstbestimmung und sei somit nicht rechtens.